Nach dem „Chalet Mauriac“, Ilknur Kocer bei den „Les plumes de Léon“
Die hessische Autorin Ilknur Kocer ist Preisträgerin 2022 der Schreibresidenz Nouvelle-Aquitaine/Land Hessen, die von ALCA und dem Hessischen Literaturrat im Rahmen des Kooperationsabkommens zwischen der Region Nouvelle-Aquitaine und dem Land Hessen gefördert wird. Und sie ist die erste Autorin, die Les plumes de Léon im Rahmen dieser Cross-Residenzen empfangen durfte.
Die Autorenresidenz Les plumes de Léon ist im Vallée de l'Homme im Herzen des Périgord Noir angesiedelt. Sie empfängt seit 2019 jährlich vier Autoren, zwei im Frühjahr, zwei im Herbst und bietet ihnen eine komfortable Auszeit, um in die Schreibarbeit einzutauchen.
Die junge deutsche Illustratorin und Autorin türkischer Abstammung ist privat und als Künstlerin stark politisch engagiert, zeichnet und erzählt von kulturellen Interferenzen und beschäftigt sich mit den Themen Migration, Rassismus und Feminismus. Sie wusste absolut nicht, was sie erwartete, als sie Anfang Oktober 2022 nach einem Monat Aufenthalt im Chalet Mauriac in diese ländliche Gegend kam. Als sie im Sommer 2022 im Chalet Mauriac, südlich von Bordeaux, eintraf, wüteten dort in der Gegend verheerende Waldbrände. Der Anblick der verwüsteten Landschaft hat Ilknur so beeindruckt, dass sie sogleich mit der Arbeit an einem Comic begann, der sich mit Waldbränden in Folge des Klimawandels befasst. Diese Arbeit setzte sie im Périgord fort. Später vertraute mir Ilknur an: „Zuerst war ich skeptisch über die Teilung meines Stipendiums auf zwei Orte. Ich brauche Zeit, mich zurechtzufinden, mich einzuleben. Zeit, die bei so einem Aufenthalt sowieso begrenzt ist. Dann soll ich das gleich zwei Mal machen müssen? Doch es entpuppte sich als die perfekte Mischung.“
Ilknur erzählte auch von ihren Befürchtungen, ein paar Wochen auf dem Land und weit entfernt von allem zu verbringen. Ich kenne das große Verführungspotenzial unserer Gegend – Saint-Léon-sur-Vézère, ("eines der schönsten Dörfer Frankreichs"), die prächtige Landschaft, die prähistorischen Stätten (Lascaux, Font-de-Gaume, La Madeleine ...), die Schlösser ... das alles im warmen Licht eines Altweibersommers eingetaucht – und habe mir keine Sorgen gemacht. Und Ilknur hat sich tatsächlich sehr schnell eingelebt: „Meine Arbeiten beginnen oft mit der Beobachtung. Ich beobachte Menschen, Landschaften, Interaktionen, mich selbst. Ich beobachte Themen, die uns als Gesellschaft und mich bewegen und versuche mit dem Stift darauf zu zeigen. Die Vielfältigkeit der jeweiligen Orte boten mir mehr als nur Beobachtungen.“
Allerdings spricht Ilknur nicht Französisch und hat keine ins Französische übersetzten Veröffentlichungen. Daher wusste ich zunächst nicht so richtig, wie ich sie während ihres einmonatigen Aufenthalts im Périgord mit den hiesigen Lesern vertraut machen konnte, um ihr auch hier einen Austausch über ihre Arbeit zu ermöglichen. Diese Art Austausch, die wir für alle Residenzgäste organisieren, ist uns wichtig: Die Autoren sollen über die Arbeitszeit hinaus, fernab von jeglichen Zwängen, die Gelegenheit haben, Beziehungen zur Region und ihren Bewohnern aufzubauen.
Wir haben eine Pressemitteilung herausgegeben, um Ilknurs Ankunft in der Dordogne anzukündigen und ihren Werdegang vorzustellen: ihre Ausbildung an der Kunsthochschule in Kassel und am Sint Luca in Brüssel; ihre Comics, die in zahlreichen Magazinen und Zeitungen veröffentlicht wurden, darunter Resist! (New York) oder Der Freitag (Berlin), und in nationalen und internationalen Ausstellungen von Istanbul, Brüssel, Gent bis Berlin gezeigt werden.
Und die Dinge nahmen schnell ihren Lauf: Die Tageszeitung Sud-Ouest veröffentlichte einen Artikel, und dann wandte sich Laurent Seitmann, ein freiberuflicher Journalist der Zeitschrift Bien en Périgord, an uns, um ebenfalls einen Artikel zu schreiben. Nun ist Herr Seitmann auch Lehrer an der Jacques-Prévert-Grundschule in Terrasson-La-Villedieu, einem Städtchen mit einer großen türkischen Gemeinde. Er bot Ilknur an, einen Tag mit der dritten Klasse zu verbringen, wo sie mit den Kindern Comic-Workshops durchführte. "Diskretion, Bescheidenheit, Sensibilität, Talent. Das sind die Worte, die mir einfallen, um die Begegnung meiner Drittklässler mit Ilknur Kocer zu beschreiben", schreibt der Lehrerjournalist, "ihre Familiengeschichte, ihre Erzählung, haben die Schüler berührt, ihre Neugier auf den Prozess des literarischen und künstlerischen Schaffens geweckt, unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Ausgangsvoraussetzungen." So wie ich Ilknur erlebt habe, kann ich diese Worte bestens nachvollziehen.
Ilknur ihrerseits fasst die Begegnung wie folgt zusammen: „Mit den wenigen Wörtern Französisch konnte ich den Sinn des Gesagten nur erahnen. Doch der Comic übernahm die vermittelnde Funktion. Schnell stand ich im Austausch mit den Kindern. Gemeinsam wärmten wir uns mit Zeichenübungen auf. Später wurde es ein wenig tiefgründiger und wir zeichneten unser jetziges und zukünftiges Dasein in vier Panels. Die Zeit verflog und am Ende wollten die Kinder die Schule gar nicht mehr verlassen. Auch ich nicht.
Diese Begegnung war mir wichtig. Im Vorfeld erfuhr ich von dem hohen Migrationsanteil in der Region. Viele Erfahrungen der Kinder teilte ich. Doch damals waren Menschen wie ich oder wir weniger repräsentiert in der hiesigen Gesellschaft. Außer meinen Eltern und der Familie hatte ich kaum Vorbilder, die so sprachen, handelten oder aussahen wie ich. An diesem Bild der Gesellschaft will ich rütteln, indem ich mit meiner Arbeit präsent bin. Ich will mir nicht anmaßen ein Vorbild für irgendwen zu sein, aber dennoch hoffe ich die Kinder mit meiner Comic Arbeit zu ermutigen.“
Dann kontaktierte uns die Produktionsfirma Novanima, um für die europäisch-regionale Dokumentarserie InFlux einen Dreh über Ilknurs Residenz bei Les Plumes de Léon zu machen. Diese Aussicht beunruhigte Ilknur zunächst, da sie Kameras nicht gewohnt ist – aber auch hier lief alles gut: „Als Comicautorin verstecke ich mich gerne hinter meinen Geschichten, denn diese erzählen ja schon alles, was ich denke oder sagen will. Doch die Chance, das erste Mal eine Reportage über mich drehen zu lassen, wollte ich auch nicht missen. Also fasste ich meinen Mut zusammen und fing an zu zeichnen, während eine riesige Kameralinse und ein flauschiges Mikrofon auf mich gerichtet waren.“
Die Dreharbeiten mit dem Regisseur Giulio Boato und dem Tontechniker Pierre Georges verliefen sehr harmonisch und auf Englisch. Sie fanden in dem Häuschen statt, in dem Ilknur untergebracht war, im angrenzenden Atelier und schließlich bei einem Salat am Ufer der Vézère.
Während Ilknurs Aufenthalt unternahmen wir auch lange Spaziergänge oder trafen uns zu einem Glas Wein, einer Spezialität aus dem Périgord oder bei einem köstlichen türkischen Gericht, das Ilknur für uns zubereitet hatte und den aussagekräftigen Namen „Imam bayildi“ trägt, was so viel bedeutet wie "Der Imam ist umgefallen" (da es so unfassbar lecker ist!). Wir sprachen über Ilknurs Familie, das politische Engagement, das sie seit jeher begleitet, und über ihren eigenen Weg zum künstlerischen Schaffen. Für Ilknur, die in einer dicht besiedelten Region lebt, war das Eintauchen in die unberührte Natur des Périgords eine völlig neue Erfahrung, die sich, wie sie sagt, "mit einem neuen Licht auf meine Arbeit auswirken wird". Und natürlich war der Tag, den sie in Lascaux 4 verbrachte, ein sehr besonderer Moment für die junge Künstlerin.
Wir haben überlegt, wie wir die Verbindung aufrechterhalten und den begonnenen Dialog fortsetzen können. Sobald ihr Comic-Album fertig ist, werden wir versuchen, Ilknur bei ihren Kontakten mit französischen Verlagen zu unterstützen, und warum nicht auch eine kleine Ausstellung im Périgord zu organisieren. Ilknur hat sowieso die feste Absicht, in die Region zurückzukehren, und würde sie gerne ihren Freundinnen aus dem Künstlerinnen-Kollektiv Goldene Discofaust zeigen, dem sie angehört.
Dies ist also der Beginn eines Dialogs mit einer talentierten, neugierigen, lebendigen und herzlichen jungen Frau. Und diese Begegnung hat mir wieder einmal deutlich gemacht, wie wichtig es ist, Autoren in Residenz zu empfangen. Denn das bedeutet, sowohl für die Gäste als auch für die Gastgeber und die Leserschaft vor Ort Entdeckungen, Staunen und menschliche Zusammenkunft.